Im Jahr des Panda. Roman.
Clemens Berger, Luchterhand Literaturverlag 2016
Der Vegetarier im Körper eines Karnivoren
Der Große Panda, dieser liebenswürdige, etwas verlangsamte, schwarz-weiße, bambusfressende Koloss, den alle so süß finden und der deshalb Besucheranstürme in den Zoologischen Gärten auslöst, ist letztlich ein Ulk der Zivilisation: Er besitzt zwar den Pseudo-Daumen, einen verlängerten Handwurzelknochen, der es ihm erlaubt, sein Grundnahrungsmittel Bambus besser festzuhalten, aber eigentlich steckt hier ein Vegetarier im Körper eines Fleischfressers. Die "große Bären-Katze", wie das Tier in China genannt wird, benötigt ungeheure Mengen des Süßgrases, um seinen Nährstoffbedarf zu decken, weil er Bambus nicht gut verwerten kann, weshalb die Tiere quasi rund um die Uhr futtern, wenn sie nicht gerade schlafen. In freier Wildbahn leben nur noch knapp zweitausend Große Pandas, aber die Volksrepublik China und unter ihrer Anleitung viele Zoos weltweit züchten sehr erfolgreich die empfindlichen, trägen Tiere, die nur ein paar Wochen im Jahr fruchtbar sind - und fürchterlich wählerisch, wenn es um Fortpflanzung und Ernährung geht.
Die Pandas sind zu Symbolen geworden, nicht nur als Maskottchen des WWF, sondern vor allem dadurch, dass sie zeigen, wie eine Art mit viel Geldeinsatz scheinbar gerettet werden kann - wenigstens halbwegs, denn die Exemplare, die aus den Züchtungsprogrammen hervorgehen, können nur selten erfolgreich ausgewildert werden. Der österreichische Autor Clemens Berger nennt sie deshalb "Reservepandas". Es sind nicht die Originale, sondern irgendwie - und mit viel Geld - nachgeahmte Versionen. Teure Kopien. Gekaufte Illusionen. Pandas sind aber auch Symbole für uns alle, die wir viele Dinge tun müssen, um zu überleben, obwohl unsere Körper nach ganz anderen Sachen verlangen. Ganz nebenbei sind wir die einzigen natürlichen Feinde des Großen Pandas.
Im Wiener Tierpark Schönbrunn wird sensationellerweise ein Pandababy geboren, und Rita, die zuständige Tierpflegerin, ist glücklich. Wochenlang wird man das empfindliche Wesen vor der Öffentlichkeit verbergen, die so gierig auf Bilder und Nachrichten aus der Welt des seltenen Tiers ist. Für etwas Ablenkung vom Thema sorgen in dieser Zeit Pia und Julian, zwei junge Menschen, die eigentlich für geringen Lohn Nacht für Nacht Bankomaten - wie man Geldautomaten in Österreich nennt - mit frischen Euro-Noten bestücken sollen, die aber eines Nachts einfach den umgekehrten Vorgang wählen und schließlich mit einer halben Million in kleinen Scheinen verschwinden. Pia ist Ritas Tochter, doch die beiden pflegen keinen Kontakt mehr. Während Rita dem Pandanachwuchs "Fi Fo" erfolgreich durch die kritischen ersten Wochen hilft, wird die abtrünnige, aber geliebte Tochter von der Polizei gejagt - allerdings nicht sehr erfolgreich, denn Pia ist ziemlich erfinderisch, und sie weiß genau, was sie will.
Und dann ist da noch Kasimir Ab, ein charismatischer Maler in den frühen Fünfzigern, der in der Öffentlichkeit immer Handschuhe trägt und nichts außer Hände malt. Kasimir Ab ist erfolgreicher, als man sich vorstellen kann, verdient sehr viel Geld mit seinen Gemälden, aber er ist nicht glücklich mit dieser Situation. Kurz nach dem Geldautomatenraub trifft er kurz auf Pia und Julian, und die junge Frau drückt dem Künstler, den sie für einen Clochard hält, einen Fünfhundert-Euro-Schein in die Hand. Die seltsame Begegnung wird zum Auslöser für eine Kette von Ereignissen, fundamentiert aber vor allem die gedankliche Verbindung zwischen den beiden.
Clemens Berger hat nach seinem beschwingt-intellektuell-liebenswürdigen Roman "Das Streichelinstitut", dessen Protagonist Sebastian übrigens eine Nebenrolle in "Im Jahr des Panda" spielt, und der bemerkenswerten Novelle "Ein Versprechen von Gegenwart" nun eine mächtige Erzählung vorgelegt, die Elemente des Kriminalromans aufweist, ein bisschen eine Reisegeschichte ist, in erster Linie aber ein klassischer Entwicklungsroman, der sich mit der Frage befasst, ob das Leben, das wir alle führen, zu führen genötigt sind, auch das ist, das wir uns wünschen würden, wenn wir tatsächlich die Wahl hätten. Die Antwort dürfte in den allermeisten Fällen ein klares "Nein" sein, und diese wiederum hat viel mit dem merkwürdigen Tauschmittel zu tun, das uns mehr beherrscht als alle absurden Götter und schrägen Ideologien zusammengenommen. Wir tun es für Geld. Wir tun alles für Geld.
Kasimir Ab und die flüchtige Diebin Pia versuchen, dieses Prinzip umzukehren, ihm ein Schnippchen zu schlagen, es wenigstens für die Öffentlichkeit zu verdeutlichen. Es ist mehr als nur lesenswert, sie dabei zu beobachten."Im Jahr des Panda" ist ein phänomenal erzähltes, wuchtiges, spannendes, kluges und mitreißendes Buch, das sich mit enormer Ernsthaftigkeit, die mindestens mit genauso viel Vergnügen gepaart wurde, mit den essentiellen Fragen des Daseins befasst, fundamentale Gesellschaftskritik mit viel Lust und Liebe verbindet, das häufig überrascht und originelle Informationen vermittelt, ohne zu schlaumeiern, das sehr atmosphärisch ist und mit liebenswürdigen, plastisch gezeichneten Charakteren daherkommt. Man kann diesen Roman als Thriller in sich hineinfressen, wenn man möchte, aber man kann auch den Nuancen, der fein angelegten Erzählstruktur und nicht zuletzt der Thematik Aufmerksamkeit schenken und jeden einzelnen der prächtig formulierten Sätze auf sich wirken lassen. Für mich das bislang beste Buch des Jahres, und damit ein weiteres Puzzleteil im unlösbaren Rätsel, das sich da "Deutscher Buchpreis" nennt - denn hier war dieser großartige Roman nicht einmal auf der Longlist vertreten.
Tom Liehrs aktuelle Veröffentlichung:
LANDEIER.
ROMAN.
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Oktober 2016
ISBN: 978-3499290428
EUR 14,99
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